Günther Uecker

„Durch Wissen
kommt der Mensch
zur Menschlichkeit“
Hafez und der
Okzident

Prof. Dr. Hermann Parzinger
Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz


Hafez, der zu den bedeutendsten persischen Dichtern und Mystikern gehört, übte wieder und wieder eine erstaunlich ungebrochene Anziehungskraft auf abendländische Geistesgrößen und Künstler aus. Und obwohl er, der 1320 in Shiraz Geborene und vermutlich dort im Alter von 62 Jahren auch Gestorbene, uns zeitlich so fern sein sollte, ist er uns durch seine Lyrik geistig doch so nahe. Universell ist ein Werk erst dann, wenn es zeitlos erscheint und Menschen heute ebenso wie vor 700 Jahren in seinen Bann zieht und sich dadurch in das kollektive kulturelle Gedächtnis der Menschheit einschreibt. Für Hafez gilt das in besonderer Weise. So verwundert es nicht, wenn Günther Uecker seinen dem Dichter gewidmeten Werkzyklus „Huldigung an Hafez“ nennt.

Uecker orientiert sich dabei an ausgewählten Ghaselen von Hafez. Bei Ghaselen handelt es sich um jene im 13. und 14. Jahrhundert im persischen Sprachraum entwickelte Gedichtform, die Hafez schließlich zur meisterlichen Vollendung brachte. Hafez‘ Divan umfasst etwa 500 Gedichte, von denen die meisten in der Form von Ghaselen geschrieben wurden. Ghaselen liegt ein sehr komplexes Geflecht von Form- und Sinnbeziehungen zugrunde. Jede Ghasele ist einem bestimmten Thema gewidmet und besteht aus bis zu 15 Reimpaaren mit je zwei Halbversen, deren zweiter immer mit dem Reim der ersten Strophe endet. Hafez behandelt in seiner Lyrik der Ghaselen die sinnlichen Genüsse der Liebe, des Weins und der Naturschönheiten, wobei Liebe und Wein für ihn nur Metaphern für mystische Trunkenheit bei der Hingabe zu Gott sind. Einzig die Liebe zu Gott ist der Rausch, der ewig währt. Durch seine Dichtung schuf Hafez einen mystischen Gegenentwurf zur von Heuchlerei und Machbesessenheit geprägten Welt seiner Zeit.

Während sich die Ghaselendichtung in den Jahrhunderten nach Hafez über den Indischen Subkontinent ausbreitete und dort sehr manierierte und kaum mehr allgemein verständliche Spätausprägungen erfuhr, erreichte sie Europa erst im 19. Jahrhundert, dann jedoch mit gewaltiger Wirkung. Johann Wolfgang von Goethe entdeckte Hafez zwar erst im reiferen Alter von 65 Jahren, doch er war überwältigt von dessen Dichtkunst und schreibt 1815 über Hafez: „… ich musste mich dagegen produktiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können“. Dieses gewaltige Kompliment Goethes beschreibt die ganze Kraft, die von Hafez‘ Lyrik ausgeht. Inspiriert von Hafez‘ Ghaselen verfasste Goethe in den Folgejahren mit dem „West-östlichen Divan“ seine mit Abstand umfangreichste und in zwölf Bücher eingeteilte Gedichtsammlung. Darin heißt es unter anderem:

„Wer sich selbst und andre kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen“.

Diese Zeilen bringen eine Seelenverwandtschaft zum Ausdruck, die Goethe einerseits gegenüber Hafez verspürte, die er andererseits aber auch auf den Islam in seiner Gesamtheit übertrug. Vielleicht gehört Goethes Verhältnis zum Islam zu den erstaunlichsten Facetten in seinem Leben. In einer von Goethe selbst verfassten Ankündigung seines „West-Östlichen Divan“ steht der erstaunliche Satz zu lesen, der Verfasser „lehne den Verdacht nicht ab, dass er selbst ein Muselman sei“. Goethes Wertschätzung des Islam hatte zweifellos nicht nur mit seiner Begeisterung für Hafez zu tun, sondern geht in seine frühen Jugendjahre zurück. Schon als 23jähriger dichtete Goethe ein Preislied auf den Propheten Mohammed, und sein ganzes Leben lang bezeugte er dem Islam immer wieder seine Verehrung. Johann Gottfried Herder führte Goethe im Straßburger Winter 1770/71 an die Lektüre des Korans heran, und auch wenn er ihn in seiner Originalsprache nicht zu lesen vermochte, so blieb ihm doch die hohe sprachliche Qualität des Textes nicht verborgen. Religiöse Affinitäten mögen zudem beigetragen haben, dass Goethe sich vom Islam angesprochen fühlte, wie zum Beispiel die Tatsache, dass Gott sich den Menschen durch Abgesandte offenbarte und vieles mehr. Gewiss war diese Nähe zum Islam, die der Begegnung mit Hafez‘ Lyrik voranging, eine nicht zu unterschätzende Voraussetzung für die spätere Wertschätzung des großen persischen Dichters und damit auch für die Entstehung des „West-Östlichen Divan“.

Auch wenn Goethes Lob auf den Islam vielen Christenmenschen seiner Zeit zu weit gegangen sein dürfte, ist dies doch in gewisser Weise auch charakteristisch für die Epoche des aufklärerischen Umbruchs im ausgehenden 18. Jahrhundert. Seit der Geburtsstunde des Islam im 7. Jahrhundert standen sich Abendland und Morgenland, Okzident und Orient, nahezu ein Jahrtausend lang feindlich gegenüber. Die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen, von der Eroberung Spaniens und der Bedrohung des Frankenreiches durch die Araber im 8. Jahrhundert über die Einfälle der Sarazenen auf Sizilien, die Kämpfe um das Heilige Land im Zeitalter der Kreuzzüge, die Eroberung Konstantinopels mit der Vernichtung des christlich geprägten Byzantinischen Reiches bis hin zur letzten Belagerung Wiens durch die Türken im Jahre 1683 und der daraus resultierenden und nicht enden wollenden Türkenfurcht in großen Teilen Europas, hatten entscheidenden Anteil an dieser Weltsicht. Dies änderte sich erst im Zeitalter der Aufklärung, jedenfalls lieferte das 18. Jahrhundert verschiedentlich Ansätze, das Wesen des Islam unvoreingenommener zu betrachten. In Deutschland waren es besonders Gotthold Ephraim Lessing und Johann Gottfried Herder, die in dieser Richtung wirkten und für eine offenere, tolerantere „Haltung gegenüber dem Islam eintraten. Lessings „Nathan der Weise“ zielt zwar auf das Judentum, doch die zentrale Botschaft seines Dramas ist die Forderung nach religiöser Toleranz. Und Herder würdigt – ähnlich wie später Goethe – am Islam die hohe Wertschätzung für die Lehre von dem einen Gott; in diesem Punkt fühlte man sich – allen ein Jahrtausend lang wirkenden kriegerischen Auseinandersetzungen zum Trotz – erstaunlich nah.

Allerdings darf man dabei nicht übersehen, dass diese unvoreingenommene Haltung in erster Linie die herausragenden Geistesgrößen jener Zeit kennzeichnete, aber keineswegs in der Breite der Bevölkerung angekommen, geschweige denn verankert war; diese neue Offenheit gegenüber dem Fremden und Anderen blieb die Einstellung Einzelner.

Eindrucksvoll ist das in Weimar im Jahre 2000 eingeweihte Goethe Hafez Denkmal von Ernst Thevis und Fabian Rabsch, das sehr eindrücklich die innige Geistesverwandtschaft der beiden Dichter über alle zeitlichen, geografischen, religiösen und kulturelle Grenzen hinweg symbolisiert. Zwei überdimensionale und aus einem einzigen großen Granitblock geschnittene Stühle stehen einander gegenüber, zwei Teile eines Ganzen, die zusammengefügt wieder den ursprünglichen Granitblock ergeben. Sie stehen in west-östlicher Ausrichtung auf einer bronzenen Sockelplatte mit Versen von Hafez und solchen von Goethe, die einmal mehr die Seelenverwandtschaft zwischen Morgenland und Abendland beschwören:

„Herrlich ist der Orient
übers Mittelmeer gedrungen,
Nur wer Hafez liebt und kennt
weiß was Calderon gesungen.“

Doch nicht nur Goethe wurde von Hafez in seinen Bann gezogen. Der große persische Dichter wirkte auch im späteren 19. Jahrhundert ungebrochen nach. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat ihn ebenso wie der Dichter, Sprachgelehrte, Übersetzer und Begründer der deutschen Orientalistik Friedrich Rückert in Versen verewigt. Die Gedichtform der Ghaselen war damals zum Nachweis dichterischer Virtuosität überaus beliebt, und Theodor Storm, Gottfried Keller, Hugo von Hoffmannsthal und viele andere versuchten sich daran. Einige der Ghaselen von Rückert und Keller wurden von Gustav Mahler vertont, und Komponisten wie Franz Schubert oder Arnold Schönberg versuchten sich an musikalischen Ghaselen. Doch auch die bildende Kunst jener Zeit griff das Hafez-Motiv auf. Anselm Feuerbach, einer der bedeutendsten deutschen Maler aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, beschäftigte sich seit seiner Jugend mit Hafez und widmete ihm zwei Gemälde. Das 1852 entstandene Bild „Hafez vor der Schänke“ zeigt einen lebhaft erzählenden, vielleicht Ghaselen vortragenden älteren Mann vor aufmerksam lauschenden Zuhörern. In einem weiteren Werk „Der Märchenerzähler am Brunnen“ von 1866 ist ein deutlich zurückhaltender dargestellter, junger Hafez zu erkennen, und die orientalischen Bezüge der Personen und Bildkomposition sind nicht mehr so prägend und könnten auch der Antike entlehnt sein. Günter Ueckers „Huldigung an Hafez“ reiht sich also ein in eine lange, bedeutsame Tradition. Für diese Tradition ist besonders die von Hafez‘ Dichtung ausgehende stimulierende und schöpferische Kraft kennzeichnend. Ob Dichter, Musiker oder Maler, Hafez inspirierte immer wieder zu gewaltigen künstlerischen Neuschöpfungen.

Das ist auch bei Uecker so.
Warum ist das gerade heute wichtiger denn je? Warum ist es wichtig, sich der Rezeption des größten persischen Dichters durch Größen des deutschen Geistes- und Kunstlebens im 19. Jahrhundert wieder stärker bewusst zu werden? Und warum ist es wichtig, dass heutige Künstler wie Günther Uecker diese Tradition nicht minder lebendig fortführen? Es ist wichtig, weil es der heutigen Zeit mehr denn je an der Achtung vor dem Anderen und dem Fremden fehlt. Goethe achtete die Juden, weil sie das Volk waren, das die Bibel geschaffen hat; und er respektierte den Islam, weil er den Koran hervorgebracht hat. Wenn die unsere heutige Zeit prägende Konfrontation zwischen Orient und Okzident, zwischen Christentum und Islam, zwischen Terror bzw. Krieg und Tourismus aufgelöst werden soll, braucht diese Beziehung zwischen Abendland und Morgenland eine neue geistige Dimension, und die kann nur auf mehr Wissen voneinander beruhen, nicht auf die Kenntnis allein von Fakten, sondern auf dem Wissen über das Wesentliche. Bei der Beantwortung der Frage nach dem Wesentlichen ist die Kunst aufgrund ihrer kreativen Kraft unerlässlich, ob sie nun dichtend, komponierend oder malend schöpferisch tätig wird. Daraus können Orientierungshilfen entstehen, um sich dem heutigen Weltgeschehen zu stellen und es besser zu begreifen.

Goethes „West-Östlicher Divan“ ist ein Großwerk des Respekts, der Suche nach dem Gemeinsamen und Verbindenden und damit des kulturellen Dialogs. Goethe gründete seinen Kulturvergleich auf die tieferen universellen menschlichen Werte, die allen Zivilisationen und Religionen gemeinsam sind, wenn er schreibt:

„Närrisch, dass jeder in seinem Falle
Seine besondere Meinung preist!
Wenn Islam Gott ergeben heißt,
In Islam leben und sterben wir alle!“

Doch Goethe plädiert dabei auch vehement für den Blick in die Tiefe der Geschichte, wenn er wieder im „West-Östlichen Divan“ sehr treffend feststellt:

„Wer nicht von dreitausend Jahren
Sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib im Dunkeln unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben.“

Wenn wir die Geschichte Europas befragen, dann wird sehr schnell deutlich, welche entscheidenden Beiträge der Islam zum Werden und zur kulturellen Verfasstheit dessen, was wir als Abendland oder Okzident bezeichnen, beigetragen hat. Die ersten Muslime in Deutschland waren sieben Kriegsgefangene, die der König von Asturien bei einem Überfall auf Lissabon machte und die er im Jahre 798 Karl dem Großen als Freundschaftsgeschenk nach Aachen schickte. Sie stehen in gewisser Weise stellvertretend für einen historischen Prozess, in dem sich als Folge der muslimisch-arabischen Eroberungen in Nordafrika, im Nahen Osten und bis hin nach Byzanz die antike Einheit der Mittelmeerwelt endgültig aufgelöst hatte. Wenn wir heute also nach den zivilisatorischen Wurzeln Europas suchen, dann ist der Blick dabei nicht nur auf die griechische Kunst und Architektur und die Athenische Demokratie zu richten, sondern auch auf eine gewaltige Verlagerung des politischen, wirtschaftlichen und eben auch kulturellen Kraftfeldes von den Küsten des Mittelmeeres nach Norden in Richtung auf das geografische Zentrum unseres Kontinents. Diese „Kontinentalisierung Europas“, wie der Historiker Michael Borgolte sie nannte, bildete die entscheidende Grundlage für die Welt von heute. Da sie eine Folge der islamischen Expansion war, ist der Islam – ungewollt – zu einer Art Geburtshelfer des modernen Europageworden. Die islamische Welt war aber auch ein riesiger Raum für die Verbreitung von Gütern, Ideen, Techniken und Erfindungen einerseits und für die überwiegend friedfertige Begegnung von Völkern, Religionen und Kulturen andererseits. Die Eroberung byzantinischer Städte und Klöster verschaffte den Muslimen zudem Zugang zur antiken Naturwissenschaft und Philosophie, die sie uns überlieferten und die sie weiterentwickelten. Die Errungenschaften und Erfolge der islamischen Wissenschaften trugen auch zu einem Aufschwung von Handel und Städtewesen bei uns im christlichen Europa bei. Erst mit der Eroberung Granadas 1492 und der Vertreibung der Muslime aus Spanien im Westen des Mittelmeeres und mit der kurz zuvor im Jahre 1453 erfolgten Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen und der beginnenden Expansion der Türken auf der Balkanhalbinsel begann eine neue Phase der Abgrenzung und Entzweiung, die lange anhalten und bis heute prägend bleiben sollte. Es lohnt sich also, tiefer in die Geschichte einzudringen, um auch den Beitrag des Islam zur Entwicklung Europas zu begreifen.

Für das vorübergehende Ende dieser Entzweiung steht die Wiederentdeckung von Hafez durch Goethe. Ob gewollt oder nicht, aber mit seiner Achtung des Islam und mit seinem „West-Östlichen Divan“ ist Goethe dem Monopolanspruch der christlichen Kirchen auf alleinige Erlösung von den Übeln dieser Welt sehr klar entgegengetreten und hat – im Verbund mit Herder, Lessing und anderen – eine neue Offenheit und Toleranz des Denkens eingefordert. Wären seiner Aufforderung mehr Menschen noch entschiedener gefolgt, hätte sich auf deutschem Boden ein anderer Freiraum für religiöses Denken und Handeln entwickeln können. Er hätte heute, in einer Zeit, in der Millionen von Menschen muslimischen Glaubens unter uns leben und kontinuierlich neue hinzukommen, deren Integration erheblich erleichtern können, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Werte der Toleranz, die Goethe einst in den Lehren des Propheten Mohammed erkannt hatte, an oberster Stelle stehen. Schon immer haben wir unsere Geschichte und unsere Kultur mit Anderen geteilt. Offenheit und Toleranz sind dabei die entscheidenden Bausteine für ein friedliches Zusammenleben und für Zukunftsfähigkeit. Doch Offenheit und Toleranz kann es ohne Wissen und Bildung nicht geben. Wie sagte schon Hafez:

„Durch Wissen kommt der
Mensch zur Menschlichkeit“.